Protokoll der Landtagswahl von Niedersachsen
8:00 Uhr
Stehe voller Tatendrang auf. Endlich ist es soweit: Landtagswahl in Niedersachsen. Das ganze Land legt seine Hoffnung in die wenigen Tapferen, die den Status Quo nicht länger hinnehmen wollen. Die grauen Panther, die ihre von Arthritis gekrümmte Faust in den Himmel recken, die Pogo-Anarchisten, die die Lufthoheit über die Stammtische auch diesmal wieder der eigenen Unfähigkeit opfern mußten, die Wähler, die sich fragen wie frei sie in diesem Niedersachsen des Jahres 2008 noch sind. Sie alle haben sich aufgemacht oder sind zu Hause geblieben.
10:34 Uhr
Stimme mich mit Musik ein auf das, was folgen wird. Die Playlist:
- Warshavianka (auf Finnisch)
- Internationale (auf Philippinisch)
- Giovinezza (auf Italienisch)
- Cows With Guns (auf Englisch)
11:38 Uhr
Klicke mich zum dritten Mahl durch den Wahl-O-Mat. Die Empfehlung lautet schon wieder FDP…
12:18 Uhr
Bin immernoch unentschlossen, welcher Kringel mein Kreuz verdient. Drucke einen Stimmzettel aus und hänge ihn an die Dartscheibe. Drei Pfeile. Erststimme: Mutlu, Yilmaz, Bankkaufmann, FDP. Zweitstimme: Christlich Demokratische Union Deutschlands, CDU. Der dritte Pfeil geht ins Leere. Leider ist der Stimmzettel aus dem Wahlkreis 67 Cloppenburg, sodaß Yilmaz Mutlu auf meine Stimme verzichten muß.
12:22 Uhr
Schalte den dominikanischen Internetrundfunk ein. Bachata. Mit keinem Wort wird die Landtagswahl in Niedersachsen erwähnt. Will die vierte Gewalt dieses Thema totschweigen?
12:49 Uhr
Schlage nach, wie man Pinocchio schreibt. So.
13:11 Uhr
Blick aus dem Fenster. Wo sind sie, die mobilisierten Massen, die demokratischen Bataillone? Auf ihr Niedersachsen, an die Urnen! Es scheint keiner meine Begeisterung und meinen republikanischen Pathos zu teilen.
13:15 Uhr
Der Deutschlandfunk meldet: Barack Obama setzt sich bei den Landtagswahlen in Niedersachsen durch! Werde sofort eine Sektflasche köpfen und ein Glas auf den Sieger erheben.
13:17 Uhr
Hatte mich verhört. Barack Obama hat nur die Wahl in Kenia manipuliert. Egal, habe sowieso keine Sektflasche gefunden.
15:11 Uhr
Meine Stimme ist noch immer nicht vergeben. Informiere mich daher über die Partei Die Friesen. Unter anderem werden folgende Forderungen auf der Homepage der Partei kolportiert:
- Erhaltung unser ethnischen und sprachlichen Eigenheiten durch
vermehrten Einsatz plattdeutscher Sprach in der Schule. - Eisenbahnverbindungen von Leer / Emden / Aurich / Wilhelmshaven (Wohin scheint egal.)
Meine Stimme ist den Friesen sicher! Umdat uns Kinner un Kindskinner neet daar swemmen, war wi nu wohnen!
Auch den Leserbrief zur Deicherhöhung sollte sich jeder Bundesbürger, der noch einen letzten Tropfen Gewissen im Herzen trägt, durchlesen.
15:23 Uhr
Stelle fest, daß Die Friesen im Wahlkreis 1 „Braunschweig-Nord“ keinen Bewerber stellen. Stimmensplitting ist für Weicheier und Antidemokraten!
15:33 Uhr
Das Wetter ist trist und grau. Überlege mir, ob ich überhaupt wählen gehen soll. Wenn ich eine Wahl veranstalten würde, käme von denen doch auch keiner…
15:36 Uhr
Entschließe mich doch, meine staatsbürgerlichen Pflichten wahrzunehmen. Stell Dir vor es ist Wahl und keiner geht hin. Auch irgendwie doof. Packe die Wahlbenachrichtigung, meinen brandneuen Reisepaß mit Fingerabdruckklimbim und
Selektivbombenfernzündetriggerchip und einen Kompaß in die Tasche und mache mich auf den Weg ins nicht barrierefreie Wahllokal.
16:10 Uhr
War wählen. Vor allen öffentlichen Gebäuden hingen die Flaggen auf Halbmast. Erweist man einem Tag wie heute so Ehre? Ich denke nicht.
Auch das braunschweiger Wahlkarussell drehte seine Runden. In eigens dafür bereitgestellten Straßenbahnen wurden leicht beeinflußbare Senioren von Wahllokal zu Wahllokal gekarrt um dort ihr Kreuz an der „richtigen“ Stelle zu machen. Welche Stelle das ist, können wir uns wohl alle denken, Frau Unruh.
Vor dem vermeintlichen Wahlraum angekommen gebot mir ein Schild, daß ich mich am Gebäude geirrt hatte. Sollte es sich dabei um einen Scherz betrunkener Wahlleiter mit unterdrückten anarchistischen Tendenzen handeln, so deutete ein Berg leerer Weinflaschen darauf hin.
Als ich auf der Suche nach dem tatsächlichen Wahlraum durch die Leonhardstraße irrte, traf ich zu meiner eigenen Überraschung auch auf die Wahlkampfzentrale des vermeintlichen Siegers dieser Wahl.
Nachdem ich das richtige Wahllokal endlich gefunden, das Kreuz neben dem großen „Ja“ gemacht und für den Anschluß gestimmt hatte, trat ich wieder in den norddeutschen Nieselregen. Auf dem Heimweg begegnete ich einem schuldig dreinblickenden Teenager, der einen blauen Sack mit sich schleppte. Der Sack war zum bersten voll und durch die Löcher in den platzenden Nähten konnte man gefaltetes Papier erkennen. Ein Jungsozialist beim Wahlzettelvernichten? Alles deutet darauf hin.
17:51 Uhr
Die Würfel sind so gut wie gefallen. Nun bleibt auch mir nicht mehr, als in patriotisches Gewandt gehüllt voller Spannung den ersten Prognosen und Hochrechnungen zu harren.
18:02 Uhr
Die Prognose sagt, es wurde gewählt. Also von manchen zumindest.
19:06 Uhr
Die Wahl ist gelaufen, was gesagt werden konnte wurde gesagt. Ich will die Bühne nun endgültig den Wulfs, Kochs, Ypsilantis, Becks und all den anderen Knallchargen überlassen und ziehe mich hiermit aus dem politischen Tagesgeschäft zurück.
Zum ersten Mal in meinem Leben lasse ich mich zum Gebrauch von cyberslang hinreißen: rotflbtcastc